Der Wolf und die Rote Liste - die ganze Wahrheit?
Wie alle irgendwo auf der Welt ganz oder in Teilen gefährdete Arten, füllt auch der Wolf ein eigenes Kapitel auf den Roten Listen der IUCN (International Union for Conservation of Nature). Sowohl die Art als Ganzes als auch einzelne Vorkommen werden beschrieben und bewertet und nach den von der IUCN festgelegten Kriterien eingestuft. Diese Kriterien orientieren sich in ihrem Grundgedanken daran, die Gefährdung real bedrohter Arten insgesamt sowie zusätzliche Gefahrenpotenziale zu identifizieren und zu beschreiben. Solche Daten beziehen ihren Wert vor allem daraus, dass sie aktuell sind und dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Seit 2007 schlummerte in diesen Veröffentlichungen Canis lupus in seiner regionalen Bewertung für Westeuropa als Karteileiche mit der aus Daten des Jahres 2005/06 ermittelten Einstufung:
9. Germany/western Poland: Critically Endangered (D). The population is tiny, fragmented and isolated.
Die bei den Verantwortlichen offenbar fehlende Kenntnis von Ausbreitungsverhalten und Vermehrungspotenzial des Wolfes in mitteleuropäischer Kulturlandschaft mag diese Einstufung rechtfertigen. Daten und Fakten aus anderen Ausbreitungsgebieten hätte bereits damals eine optimistischere Einschätzung gerechtfertigt. Vor allem aber hätten sie eine deutlich frühere Neubewertung als im Jahr 2018 zwingend verlangt.
Diese Neubewertung durch Prof. Luigi Boitani, Vorsitzender der Large Carnivore Initiative for Europe, liegt nun vor. Es gilt, sie in Bezug auf eine u.U. wieder ebenso lange Haltbarkeit kritisch zu betrachten.
Positiv ist sicher zur Kenntnis zu nehmen, dass der Gefährdungsstatus um zwei Stufen von „CR Critically Endangered (vom Aussterben bedroht)“ auf „VU Vulnerable (gefährdet)“ herabgesetzt wurde. Mehr geht bei einer Neueinstufung nach den Regeln der IUCN nicht. Sie lautet für das Wolfsvorkommen in Deutschland und Westpolen im Original wie folgt:
9. Central European
Vulnerable (D1). This subpopulation has grown very rapidly since 2000 and it is now estimated in the order of 780-1,030 wolves. The estimated number of mature individuals is 468-620, justifying the category Vulnerable. In Germany, the number of mature individuals has been estimated to be at least 150-160 (BfN 2017). In the German part of the subpopulation, the expansion is mainly occurring in a northwest direction, whereas the expansion to the southwest is taken place slowly. Although the geographic gap between the Central European subpopulation and the Baltic subpopulation is nearly closed the genetic exchange between both subpopulations appears to be limited (Pilot et al. 2006, Hulva et al. 2018).
Der große Zeitabstand zwischen den Einstufungen für die Rote Liste verlangt, dass man die offiziellen Bestandszahlen der beiden Monitoringjahre 2005/06 und 20016/17 aus gleicher Quelle (DBBW) miteinander vergleicht:
2005/06:2 Rudel, 1 Paar, 10 Welpen, 2 Jährlinge= 18 Tiere
2016/17:60 Rudel, 22 Paare, 2 Einzeltiere, 220 Welpen, 174 Jährlinge = 560 Tiere
Dabei enthält die Einstufung des Vorkommens insgesamt und in 9 verschiedenen europäischen Regionen unverändert einige Widersprüche:
-Auf europäischer wie auf EU-Ebene wird der Status unverändert mit „LC - Least concern“ bzw. „nicht gefährdet“ angegeben
- Ungeachtet in der Zwischenzeit belegten schnellen Wachstums, zügiger Ausbreitung und beginnender Vernetzung der Bestände in Mitteleuropa wird nur den Subpopulationen Nordost- bzw. Südosteuropas dieser Status bescheinigt.
-Die Einteilung der Vorkommen folgt ungeachtet inzwischen vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere in Bezug auf den Zusammenhang zwischen der nordosteuropäisch/ baltischen Population und der so genannten Mitteleuropäischen Flachlandpopulation weiterhin nach dem gleichen Schema, welches die Vorkommen an administrativen Grenzen in Subpopulationen fragmentiert.
Besonders der letzte Punkt ist dabei kritisch zu betrachten, weil Prof. Boitani als Mitverfasser der „Leitlinien für Managementpläne auf Populationsniveau für Großraubtiere“ (LCIE 2008) derartige Grenzziehungen sehr kritisch bewertet hat. Auch Herzog (2017) setzt sich kritisch mit dieser Problematik auseinander. Das „Entstehen“ der im Beginn „deutsch/westpolnisch“ genannten Subpopulation ist inzwischen durch die Arbeiten zur Genetik (Czarnomska et al., 2013) und zur Ausbreitungsgeschichte im Westteil Polens (Nowak et al. 2016) eindeutig als Ausbreitung des nordosteuropäisch/baltischen Wolfsvorkommens belegt.
Gleiches gilt für das weiterhin durch die IUCN separat und unterschiedlich bewerteten Wolfsvorkommen in Italien und in den West- bzw. Zentralalpen. Hier aus der Ausbreitung durch einen zweifelsfrei vorhandenen geografischen Flaschenhals in Norditalien eine eigene Subpopulation generieren zu wollen, ändert nichts an der Tatsache, dass es dass es sich hierbei um abwandende Exemplare aus der italienischen Subpopulation handelt, welche sich mit ersten Exemplaren bereits auf dem Weg nach Süddeutschland und in die Pyrenäen befinden.
Wie die nebenstehende Karte zeigt, kamen hierzu z.B. Stronen et al. (2013) zu völlig anderen Schlüssen, was die Aufteilung und Zuordnung europäischer Wolfsvorkommen angeht.
Nach unbestätigten Quellen ist es ein lange gehegtes Ziel von Prof. Boitani gewesen, die zu seiner Studentenzeit darniederliegenden Bestände europäischer Großraubtiere nicht nur vor dem Aussterben zu bewahren, sondern die lange isolierten Vorkommen auch wieder zu vernetzen. Bei allem Respekt vor seinem Lebenswerk, warum will er jetzt an so prominenter Stelle wie den Roten Listen der IUCN das bevorstehende Gelingen verleugnen? Bei realistischer Betrachtung geht es jetzt gerade beim Wolf darum, die zügig weiter wachsenden Bestände nicht so schnell ausufern zu lassen, dass sie durch übermäßige Schäden in der Kulturlandschaft jede Chance auf eine Akzeptanz in der mit ihnen konfrontierten Landbevölkerung verlieren.
Wird das versäumt, wird der Wolf sehr schnell von der Ikone falsch verstandenen Naturschutzes wieder zum verfolgten Schädling - ohne Chance auf erneute Rückkehr!